Mobilität und Verkehr sind wichtige “Lebensadern” (und somit Grundlagen) einer modernen Gesellschaft
Mobilität und Verkehr müssen sich jedoch auch den gesellschaftlichen Erfordernissen anpassen und unterliegen somit einem beständigen Wandel. Dieser Wandel zu einer klimafreundlichen, umweltschonenden, nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrs- und Mobilitätspolitik bedarf daher nicht nur eines neuen „Mobilitätsbewusstseins“, sondern auch geeigneter Maßnahmen und politischer Vorhaben.
Diese werden sich dabei sowohl aus langfristigen Maßnahmen, wie etwa dem Ziel ab spätestens 2035 nur noch CO₂-neutrale Fahrzeuge zuzulassen, zusammensetzen, müssen aber gleichwohl auch durch kurzfristige Maßnahmen unterstützt werden.
Zur Erreichung der angestrebten Klimaziele im Verkehrssektor wie
- Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs
- Ausbau des öffentlichen Personenschienenverkehrs
- Ausbau der Fuß- und Radwegeinfrastruktur
- Verringerung von gesundheitsschädlichen Verkehrsaspekten
ist eine Beteiligung aller öffentlichen Umsetzungsträger ein Kernelement der angestrebten Verkehrs- und Mobilitätswende.
Insbesondere müssen dabei auch Kommunen (Städte, Gemeinden) eine wesentliche Rolle einnehmen, da diese auch im Sinne planerischer oder gestalterischer Entscheidungen die höchste regionale Kompetenz einbringen. Dies bedingt, dass die Gestaltungsspielräume der Kommunen, auch durch entsprechende Entscheidungen des Gesetzgebers unterstützt werden, und damit die rechtlichen Grundlagen für die notwendigen Handlungsspielräume eröffnet werden.
“Tempo 30 innerorts” – was bedeutet das eigentlich?
Im Kern geht es um mehr Handlungsfreiheit bei der Verkehrslenkung für die Kommunen.
Die Bestimmungen zur maximalen Geschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften sind in § 3 Absatz 3 StVO festgehalten:
“Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt auch unter günstigsten Umständen
- innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h”
Auf Grund der bestehenden Regelungen des Straßenverkehrsrechts – insbesondere der StVO, welche durch den Bund verantwortet wird und nur mit Zustimmung des Bundesrates geändert werden kann, dürfen sich Geschwindigkeitseinschränkungen (Zonen-Anordnung) “… weder auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) noch auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) erstrecken”.
Hier wird sehr schnell deutlich, dass das Straßenverkehrsrecht des Bundes die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen in wesentlichen Teilen sehr stark einschränkt, wenn nicht gar behindert.
Natürlich können die Kommunen in ihrem Zuständigkeitsbereich (Bsp: innerstädtisch) bereits jetzt bestimmte Zonen mit einer allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkung versehen (die Tempo-30-Zonen in Siedlungs- und /oder Wohngebieten kennen wir alle), aber die Handlungsfreiheit ist momentan auf Grund der bundesrechtlichen Vorgaben eingeschränkt.
Insofern also jetzt von “Tempo 30 innerorts” gesprochen wird, sollen die bisherigen Regelungen in der StVO so geändert werden, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung bei Bundes-, Landes- und Kreisstraßen auch innerhalb geschlossener Ortschaften entweder einzeln auf bestimmte Straßen anwendbar ist, oder aber auch Zonen definiert werden können, die dann innerhalb der Ortschaft alle Straßen mit dieser Beschränkung versehen. Was vor Ort dann wirklich auch sinnvoll ist, das sollte die Kommune unter Berücksichtigung ihrer regionalen Besonderheiten selbst entscheiden (dürfen).
Bereitschaft der Kommunen für “Tempo 30 innerorts” stetig steigend
Die Bereitschaft der Kommunen klimafreundliche, umweltschonende, nachhaltige und gesundheitsfördernde Verkehrs- und Mobilitätspolitik umzusetzen ist seit Jahren steigend. Im Rahmen der vorhandenen gesetzlichen Rahmenbedingungen werden dabei neue Fuß- und Radwege bereitgestellt, im Zuge der Parkraumbewirtschaftung bisher für den Autoverkehr genutzte Areale umgewidmet, oder die Möglichkeiten von Car-Sharing-Angeboten oder verkehrsberuhigten Zonen umsetzt.
Darüber hinaus haben sich beispielsweise über 80 Kommunen bereiterklärt “Tempo 30 innerorts” umzusetzen, um somit auch einen kurzfristig erzielbaren klimapolitischen Aspekt auf den Weg zu bringen.
Auch wenn die momentan bekannten 80 Kommunen nur einen Anteil von 4,47 % haben (Ausgangswert: 10.790 Kommunen in D) zeigt sich dennoch, dass die Bereitschaft zur Umsetzung steigt und ebenso an Bedeutung gewinnt.
Die Möglichkeit, entsprechende kurzfristige Maßnahmen auch durch die Kommunen zu unterstützen, ist wiederum eine Voraussetzung, um das Mobilitätsbewusstsein auch durch konkrete Aktionen „vor Ort“ zu verändern und somit auch Vertrauen in die Ernsthaftigkeit zur Umsetzung der politischen Ziele entstehen zu lassen.
Die auch im Koalitionsvertrag benannten klimapolitischen Ziele lassen sich bis 2030 somit nur dann umsetzen, wenn der Gesetzgeber auch eine entsprechende Rechtsgrundlage schafft.
Straßenverkehrsordnung – historisch autolastig
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) bildet zusammen mit dem Straßenverkehrsgesetz, der Fahrerlaubnis-Verordnung, der Fahrzeug-Zulassungsverordnung und der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung weitestgehend das Straßenverkehrsrecht ab. Als wesentliches Element sind in der StVO die Vorschriften und Regeln für sämtliche Teilnehmer im Straßenverkehr beinhaltet.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass die StVO nur mit Zustimmung des Bundesrates geändert werden kann. Kritiker werfen der StVO vor, dass sie im Rahmen der (Weiter)Entwicklung sehr “autolastig” ist. Dies findet sich in vielen Passagen der StVO wieder, insbesondere aber auch in § 45.
Demnach steht die „Flüssigkeit“ des Verkehrs im Vordergrund und so soll der PKW-Verkehr nur dann eingeschränkt werden können, wenn örtlich eine Gefahr vorliegt.
Was lässt der Koalitionsvertrag zu?
Neben den allgemeinen Aussagen zu einem klimafreundlichen Verkehr werden im Koalitionsvertrag auch Aussagen zur “Verkehrsordnung” getroffen.
Auch hier findet sich die “Flüssigkeit des Verkehrs” wieder, allerdings werden die Ziele des Klima- und Gesundheitsschutzes sowie der Gesundheit gleichberechtigt formuliert.
Insbesondere im Bereich Verkehr und Mobilität wird im Koalitionsvertrag darauf verwiesen, dass Entscheidungsspielräume genutzt werden sollen.
Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.
Jetzt Handeln ist das Gebot der Stunde.
Da wir der Koalition aus SPD, Grüne und FDP durchaus auch eine entsprechende Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung des Koalitionsvertrages zutrauen schlagen wir vor, dass ausgewählten Kommunen (20 % der Kommunen in D) die Möglichkeit eingeräumt wird, entweder sofort oder im nachfolgend genannten Zeitraum in Abweichung zur StVO geschwindigkeitsbeschränkende Maßnahmen auch auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) und auf weitere Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) anwenden zu können.
Mit diesem Vorschlag soll es den Kommunen möglich sein, auch einzelne oder flächendeckende Geschwindigkeitsbeschränkungen (z. Bsp. Tempo 30 innerorts) zu erlassen bzw. umzusetzen und die entsprechenden weiteren geltenden Rechtsvorschriften des Straßenverkehrsrechts auf diesen Bereich zu übertragen.
Bei der Auswahl der Kommunen ist darauf zu achten, dass hier eine Vielzahl heterogener Größen (Einwohnerzahl) als auch die regionalen Spezifika (Großstadt, Kleinstadt, Dorf/Gemeinde) berücksichtigt wird. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Evaluierung notwendig.
Wenn nicht jetzt, wann dann? …
Aus unserer Perspektive sollten die Möglichkeiten für die sich beteiligenden Kommunen sofort geschaffen werden.
Insofern eine sofortige Umsetzung nicht möglich ist, schlagen wir vor, dass der Entscheidungsspielraum mit einer Experimentierklausel alternativ für einen Zeitraum von 3 Jahren umgesetzt wird.
Als Umsetzungszeitraum bietet sich dabei eine Einführung spätestens im 1. Halbjahr 2022 an.
Über eine Weiterführung der Experimentierklausel bzw. die Überführung der Regelung in geltendes Bundesrecht (Aufnahme in die StVO und weitere Rechtsvorschriften des Straßenverkehrsrechts) ist nach Ablauf der Erprobungsphase (Experimentierklausel) unter Berücksichtigung der nachfolgend aufgeführten Evaluierung zu entscheiden.
Einführen und begleitende Evaluierung sicherstellen
Grundlage für die Durchführung der Regelung sind
- eine vorbereitende Evaluierung,
- eine begleitende Evaluierung
- und eine abschließende Evaluierung.
In dieser sind mindestens folgende Fragestellungen aufzunehmen und abschließend zu beantworten. Dabei sollen nachfolgend aufgeführte grundlegende Aspekte immer berücksichtigt werden:
- Wie hat sich das Verkehrsaufkommen im Evaluierungszeitraum verändert?
- Wie haben sich durch die eingeführten Maßnahmen Feinstaubwerte verändert?
- Wie hat sich im Evaluierungszeitraum die Lärmbelästigung verändert?
- Wie hat sich im Evaluierungszeitraum der CO₂-Ausstoß verändert?
- Wie hat sich der Verkehrsfluss geändert?
- Wie haben sich die Unfallzahlen im Evaluierungszeitraum verändert?
- Wie hat sich die Anzahl an „Verkehrstoten“ im Evaluierungszeitraum entwickelt?
- Gibt es Verlagerungseffekte vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zur Nutzung alternativer Verkehrsmittel?
- …
Dazu empfehlen wir, einen detaillierten und übergreifenden Kriterien/Fragenkatalog für alle beteiligten Kommunen auszuarbeiten. Dieser sollte gemeinsam zwischen Bund, beteiligten Kommunen sowie verkehrspolitisch aktiven Verbänden und Vereinen erarbeitet werden.
Grundvoraussetzung für eine aussagefähige Evaluierung ist, dass die beteiligten Kommunen vergleichbare Ausgangswerte im Sinne oben bezeichneter Fragestellungen belegen können.
Zur Vermeidung von Interpretationsmissverständnissen sollte der gesamte Evaluierungszyklus durch einen unabhängigen Dritten durchgeführt werden.
Die Kommunen mit den Kosten nicht allen lassen
Die notwendigen externen Kosten der Evaluierung sollen, sofern haushaltsrechtlich möglich, durch den Bund getragen werden.
Notwendige Investitionen (Verkehrsbeschilderung etc.) tragen für den Zeitraum der Evaluierung die beteiligten Kommunen. Insofern sich aus dem Ergebnis der Evaluierung keine dauerhafte Übertragung ins Bundesrecht ableiten lässt, sind die Kosten für ggfs. notwendige Rückbaumaßnahmen unter Berücksichtigung der haushaltsrechtlichen Gegebenheiten durch den Bund an die Kommunen zurückzuzahlen.
Was durch die Einführung von “Tempo 30” erreicht werden kann
Mit der Umsetzung des Vorschlags können und sollen folgende Effekte erreicht (und auch evaluiert) werden:
- Kurzfristig geringerer CO₂ – Ausstoß
- Geringere Feinstaubbelastung
- Geringere Lärmbelastung
- Verringerung der Anzahl an Unfällen
- Verringerung der Anzahl an Verkehrstoten („Vision ZERO“)
- Steigerung der Attraktivität alternativer Verkehrsmittel
- Verringerung des motorisierten Individualverkehrs
- Stärkung des Subsidiaritätsprinzips
Unabhängig der vorgeschlagenen (Einzel)Maßnahmen ist der grundsätzliche Wandel hin zu einer klimafreundlichen, umweltschonenden, nachhaltigen und gesundheitsfördernden Verkehrs- und Mobilitätspolitik erklärtes Ziel.
Wir sind der Meinung, dass der vorgelegte Vorschlag insbesondere kurzfristig realisierbar ist und damit auch sehr schnell zu einer Akzeptanz der angesprochenen Ziele beitragen kann und wird.
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