Verkehrspolitik

Das “9-Euro-Ticket” – Brücke zum kostenfreien Nahverkehr oder Alibi für Wissings Tankrabatt?

Manchmal mutet die Politik der aktuellen Bundesregierung wie von Panik, oder nennen wir es positiv „Übereifer“, getrieben. Das wurde nicht nur bei den Förderungsprogrammen für die Elektrofahrzeuge deutlich, bei denen man erst die Förderung von Hybrid-Fahrzeugen untermauerte, um sie jetzt in aller Windeseile zu kassieren. Oder beim eilends zusammengeschusterten “Tankrabatt” der, wie zu vermuten war, zu größeren Teilen in die Taschen der Ölkonzerne wandert.

Das “9-Euro-Ticket” als Teil des “Entlastungspakets” 

Das Ticket ist ein Teil des im Frühjahr auf den Weg gebrachten „Entlastungspaketes“, welches insbesondere unter dem Eindruck der ständig steigenden Energiepreise sowie des Ukraine-Krieges auf den Weg gebracht wurde. Und wohl auch als Alibi um den Tankrabatt “wohlschmeckender” zu machen und irgendwie auch grün zu wirken.

Mit dem „9-Euro-Ticket“ besteht für die Monate Juni, Juli und August die Möglichkeit, bundesweit in allen Bussen, Straßenbahnen, U-Bahnen, S-Bahnen und Zügen des Nah- und Regionalverkehrs zu fahren.

Daneben verfolgt die Regierung auch das mit dem Entlastungspaket verbundene indirekte Ziel, mehr Menschen von den Vorzügen des ÖPNV zu überzeugen und somit auch mittelfristig die Fahrgastzahlen zu erhöhen. Und vielleicht auch passionierte Autofahrer:innen zum Umstieg zu bewegen.

Dabei sorgt nicht nur der sehr günstige Preis für eine Aufbruchstimmung. Nur als Vergleich, eine Einzelfahrt im Stadtgebiet Nürnberg/Fürth kosten beim „Verkehrsverbund Großraum Nürnberg“ (VGN) 3,20 Euro, im Großbereich Hamburg sogar 3,50 Euro. Da hat sich das 9-Euro-Ticket sehr schnell amortisiert.

Als weiteren positiven Aspekt ist zu verzeichnen, dass das Tarifchaos in Deutschland (bedingt durch die schiere Anzahl von Verkehrsverbünden [1]) zumindest für diesen Zeitraum ad acta gelegt wird – das begrüßen wir ausdrücklich. Denn es ist eine zusätzliche Hürde bei Nutzung des Nahverkehrs einer anderen Region, wenn erst das Tarifsystem studieren werden muss, um der Gefahr einer nicht ausreichenden Fahrkarte auszuweichen.

Und die ersten Verkaufszahlen scheinen der grundsätzlichen Idee erst einmal recht zu geben. Denn es wurden bis 14.06.2022 ca. 16 Millionen dieser Tickets verkauft [2]. Allerdings sind zum jetzigen Zeitpunkt noch keine genauen Daten über die dauerhaft gestiegene Nachfrage in Bussen und Bahnen vorhanden. Ebenso wenig, ob das Ticket Menschen zu einem nachhaltigen Umstieg vom Auto auf den ÖPNV bewegen konnte.

Alles gut?

Auf den ersten Blick könnte man sagen: Ja. Die Idee scheint zu funktionieren, die Bilder von sehr vollen Bahnhöfen und freudestrahlenden Bahnfahrenden machten sehr schnell die Runde. Die angestrebten 30 Millionen Fahrgäste scheinen als Zielmarke erreicht, wenn man die bisher genutzten Monatskarten einberechnet.

Und es mehren sich bereits erste Stimmen, die eine Verlängerung des „9-Euro-Ticket“ bis zum Jahresende 2022 fordern. Ganz im Kontrast dazu steht allerdings Finanzminister Christian Lindner, der sich gegen eine Verlängerung ausgesprochen hat. [3].

Kein Wundermittel

Doch bei genauerem Hinschauen werden beim „9-Euro-Ticket“ die grundsätzlichen konzeptionellen und auch strukturellen Schwächen des ÖPNV in diesem Land sehr deutlich.

Zu wenig Geld …

Die vom Bund zugesagten 2,5 Milliarden Euro (Regionalisierungsmittel) sollen die Einnahmeverringerungen aus dem sonstigen normalen Ticketverkauf oder der Senkung bereits bestehender Abos auffangen. Allerdings werden die steigenden Energiepreise nur unzureichend oder gar nicht gedeckt. Je mehr die Angebote des ÖPNV genutzt werden, desto höher auch die Ausgaben der Verkehrsverbünde für die Bereitstellung des notwendigen Strom bzw. Treibstoffs. Denn auch Busse fahren, von wenigen Ausnahmen in größeren Städten abgesehen, noch mit fossilen Antrieben. Es besteht somit die Gefahr, dass die Ziele des Entlastungspakets nicht oder nicht vollumfänglich erreicht werden.

Wird aufgrund der hohen Nutzung auch noch eine Ausweitung des Angebotes benötigt (höhere Taktraten, mehr Linien, …) steigen die Energiekosten für den ÖPNV ebenso. Hinzu kommen die Kosten für mehr Personal (zum Beispiel zur Abdeckung der höheren Taktrate) – sofern sich überhaupt Personal finden lässt.

So haben die Bundesländer im Bundesrat auch nur zähneknirschend zugestimmt [4].

In der Folge wird es also nicht nur darauf hinauslaufen, dass zu wenig Geld vorhanden ist, sondern auch auf Sicht zu weiteren Kostensteigerungen kommen. Diese werden dann die bisherigen Stammkunden des ÖPNV zu tragen haben. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, könnte sich also hier ein Bumerangeffekt entwickeln, bei dem nach dem Rabatt dann auch bisherige treue Kunden entnervt auf andere Verkehrsmittel zurückwechseln.

False positive

Wie bereits eingangs erwähnt, haben wir alle noch die Bilder von sehr vollen Bahnhöfen und Zügen im Gedächtnis.

Doch genau an diesen Bildern wird auch eine Schwäche des Vorhabens sehr offensichtlich: Die völlig unzureichenden Kapazitäten im ÖPNV. Das bezieht sich hierbei eben nicht nur auf genügend Busse und Bahnen, sondern auch auf die infrastrukturellen Kapazitäten (Netzkapazitäten).

Diese können (und werden) dazu führen, dass bei den angestrebten Nutzungszahlen immer mehr Bilder von überfüllten Zügen, nicht mitfahren dürfenden Reisenden, überfüllten Bahnhöfen zu erwarten sind. Dies wird sich auch auf die Zufriedenheit der Reisenden nicht wirklich positiv auswirken.

Auch bei Fragen der Sicherheit der Reisenden in diesen überfüllten Zügen werden auf die ÖPNV-Anbieter Herausforderungen zukommen.  Zudem zeigt sich bereits jetzt, dass insbesondere auch die auch ohne „9-Euro-Ticket“ völlig unzureichenden Bedingungen für die Beförderung von Menschen mit Behinderung weiter in den Hintergrund treten werden. Gerade für diese Menschen ist jedoch der erreichbare und benutzbare ÖPNV eine der Grundlagen für die Teilhabe an der Gesellschaft.

In der Summe könnte die gerade sehr breit streuende Gießkanne auch dafür sorgen, dass bisher treue ÖPNV-Kunden aufgrund der Gesamtsituation die Wahl ihres Beförderungsmittels perspektivisch überdenken.

Auch über den August 2022 hinaus.

Mangelhafte Infrastruktur ist mangelhafte Infrastruktur

Natürlich werden viele Menschen vom „9-Euro-Ticket“ profitieren können. Das ist gut. Aber vor allem dort, wo der ÖPNV bereits jetzt gut ausgebaut ist. Also in Städten, Ballungsräumen und je nach Verfügbarkeit auch im Regionalverkehr der Bahn.

Was jedoch nicht verschwiegen werden darf ist die Tatsache, dass mit den 2,5 Milliarden des Bundes kein einziger Meter mehr an Infrastruktur bereitgestellt werden kann. Weder neue Strecken, noch Reaktivierung bisheriger Strecken oder gar die bessere Anbindung des ländlichen Raums werden die teilweise angespannte bis völlig unzufriedenstellende Situation verbessern.

Insofern reicht es eben definitiv nicht nur allein über den Preis den nachhaltigen Umstieg auf den ÖPNV zu forcieren. Denn da, wo es weder Haltestellen in näherer Umgebung oder völlig unzureichende Anbindungen oder Taktzeiten gibt, dort wird auch niemand vom vergünstigten Ticket etwas haben.

Ohne grundlegende Investitionen in den Ausbau des ÖPNV wird über kurz oder lang jedes Rabattmodell versagen.

Verweise auf den Herbst, wo seitens der Regierung grundsätzlich über die Mittel für den ÖPNV in den nächsten Jahren gesprochen werden soll, sind auch nur ein schwacher Trost.

9-Euro, 365-Euro – gleich für alle Fahrschein frei?

Die Piratenpartei war vor mehr als zehn Jahren die erste Partei, die einen umlagefinanzierten (fahrscheinfreien) Nahverkehr für alle Menschen forderte. Und dies auch heute nach wie vor im Programm hat [5].

Aber wie passt das, auch im Hinblick auf das sehr gemischte Fazit zum „9-Euro-Ticket“ zusammen, oder wie soll das realisiert werden?

Vorabbemerkung: Aus Vereinfachungsgründen sprechen wir im Weiteren vom „kostenfreien“ Nahverkehr. Gemeint ist damit eine Umlagefinanzierung der Kosten, sodass alle Nutzenden keine besondere Beförderungsgebühr (Ticket) benötigen, um diese Angebote zu nutzen.

Es ist natürlich klar, dass wir nicht über Nacht einen kostenfreien Nahverkehr für alle Menschen realisieren können. Dazu fehlt es aktuell nicht nur am politischen Willen der Regierenden oder am Geld, sondern auch an den infrastrukturellen Bedingungen.

Die Einnahmen aus dem Ticketverkauf und den Abo-Modellen belaufen sich derzeit auf 12-15 Milliarden Euro/Jahr. Doch bereits jetzt ist ersichtlich, dass diese Mittel nicht ausreichen, um den ÖPNV im notwendigen Maße auch infrastrukturell zu erweitern (neue Strecken, Reaktivierung von Strecken, Erweiterung Taktraten, Steigerung Taktzyklen).

Also welche Maßnahmen sind sinnvoll, um mittel- bis langfristig einen kostenfreien Nahverkehr zu ermöglichen:

  • Der Bund muss zu den bisherigen Regionalisierungsmitteln in den nächsten Jahren 10-15 Mrd. Euro an zusätzlichen Mitteln bereitstellen, damit neben der Erhaltung der bisherigen Infrastruktur auch die nötigen Investitionen in den Ausbau sichergestellt werden können. Besonderer Schwerpunkt sind hierbei die ländlichen oder strukturschwachen Regionen.
  • Es sollen Modellregionen oder Modellverkehrsverbünde definiert werden, in denen der kostenfreie Nahverkehr erprobt wird. Dies kann beispielsweise kombiniert werden mit der gleichzeitigen Schaffung der Möglichkeit von „Tempo 30 innerorts“, um so auch Anreize für den Umstieg auf den ÖPNV zu schaffen. Auch Maßnahmen der Parkraumbewirtschaftung können dazu beitragen, den Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr zu beschleunigen.
  • Für alle anderen Verkehrsbünde soll für Menschen mit Behinderungen, Schulkinder, Studierende und sozial benachteiligte (Hartz 4-, Sozialgeld-  oder Renten-Beziehende) die Benutzung grundsätzlich kostenfrei sein. Zusätzlich soll in diesen Verkehrsverbünden die Einführung eines 365-Euro-Ticket ermöglicht werden. Die möglichen Einnahmeausfälle sollen durch den Bund refinanziert werden.
  • Ab 2028 werden alle Verkehrsverbünde kostenfrei. Die Infrastruktur ist dabei so ausgebaut, dass es eine Mobilitätsgarantie von 5 bis 23 Uhr, innerhalb der Großstädte rund um die Uhr, gibt, die auch entsprechend nutzungsorientierte Taktzeiten beinhaltet. Zum weiteren Betrieb bzw. auch Ausbau des ÖPNV sollen die Regionalisierungsmittel in adäquater Höhe vom Bund bereitgestellt werden.

Es braucht JETZT die oben beschriebenen Maßnahmen, um den Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr nachhaltig umzusetzen. Die notwendige Verkehrswende ist nicht dadurch zu lösen, dass man in gewissen Intervallen Rabattmodelle einführt, wie auch immer man sie dann nennen mag. Denn diese lenken den Blick weg von den eigentlichen Herausforderungen.

Wir fordern die Regierungskoalition daher nachdrücklich auf, die notwendige Verkehrswende nicht länger zu blockieren.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutscher_Tarif-_und_Verkehrsverb%C3%BCnde

[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/neun-euro-ticket-135.html

[3] https://www.heise.de/news/9-Euro-Ticket-und-Tankrabatt-Lindner-spricht-sich-gegen-Fortsetzung-aus-7154305.html?wt_mc=rss.red.ho.ho.rdf.beitrag.beitrag

[4] https://www.tagesschau.de/inland/bundesrat-neun-euro-101.html

[5] https://www.piratenpartei.de/bundestagswahl-2021/wahlprogramm-2021/bauen-und-verkehr/

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